Der Dreischritt im Unterricht und SVL I

Der Dreischritt im Unterricht und das individualisierte, kooperative und selbstverantwortliche Lernen Teil 1: Drei Schritte im Unterricht

Der Dreischritt im Unterricht und das individualisierte, kooperative und selbstverantwortliche Lernen

Teil 1: Drei Schritte im Unterricht

Ein Spezifikum der Waldorfpädagogik ist der sog. Dreischritt im Unterricht. Rudolf Steiner führt das im 9. Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde vom 30. August 1919 (GA 293) mit der Reihenfolge: Schluss-Urteil-Begriff ein. Man könnte die 3 Schritte aus Sicht des Schülers auch so beschreiben:

  1. Wahrnehmen, sich erwärmen für und sich anschließen an ein Weltgebiet,
  2. individuell aufnehmen, sich verbinden, mit Gefühl durchdringen, bearbeiten, vertiefen – auch im Gespräch mit einem anderen und
    – nach dem Durchgang durch eine oder mehrere Nächte –
  3. eine eigene(!) individuelle Erkenntnis gewinnen, einen Begriff für sich selbst innerlich zu greifen versuchen und sich mit einem anderen darüber austauschen.

Das Wesentliche, worauf es Steiner dabei ankommt, ist, dass die Schüler*innen nicht fertige Begriffe der Lehrer*innen übernehmen sollen, sondern aus der Wahrnehmung des Stoffes, der Inhalte, der Bilder, der Geschehnisse, der Erlebnisse, der Gegebenheiten, der Phänomene etc. im 1. Schritt heraus dann im 2. Schritt sich damit individuell verbinden und vertieft in den Stoff eindringen, ihn sich selbst zu eigen machen, was auch mehrere Tage dauern kann. Hier ist die individuelle Arbeit in der Schule ganz wichtig! Zu Hause findet das nur statt, wenn schon eine genügende Verbindung erfolgt ist. Dann allerdings geschieht dies freiwillig ohne Aufforderung und für jeden auf seine individuelle Weise. Es ist sehr sinnvoll, hier im Unterricht anschließend an die individuelle Arbeit das Gespräch im Lerntandem zu ermöglichen, weil im Gespräch mit dem Lernpartner eine stärkere Verbindung durch die Formulierung des eigenen Zugangs möglich wird.

Dann soll das Ganze durch die Nacht oder mehrere Nächte gehen, weil das Kind/der Schüler dadurch die Möglichkeit bekommt, das, womit es sich innerlich verbunden hat, durch seine individuelle Tätigkeit in der Nacht zu verarbeiten. Das bestätigen auch die Erkenntnisse der neueren Gehirnforschung, die herausgefunden hat, dass das Gehirn in der Nacht am aktivsten ist, um alle Eindrücke des Tages zu verarbeiten. (Literatur) Dann soll der 3. Schritt: die Entwicklung einer eigenen individuellen Erkenntnis, eines lebendigen eigenen Begriffes daraus erst am nächsten Morgen/am nächsten Tag bzw. nach mehreren Nächten erfolgen. Auch hier ist wieder die individuelle Einzelarbeit der erste Einstieg. Die so innerlich erlebten Erkenntnisse können dann im Lerntandem weiterbearbeitet werden, so dass sich die individuellen Erkenntnisse am Gegenüber spiegeln und klären können. Wenn man das im Plenum dann noch sammeln und verdichten will, sollte das auf jeden Fall erst danach erfolgen.

Näheres zu diesen 3 Schritten im Unterricht führt Rudolf Steiner auch noch im Zyklus „Menschenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung“ vor allem im 2. Vortrag vom 13. Juni 1921 in Stuttgart (GA 302) aus. Ein zentraler Satz den 2. Schritt betreffend steht schon im 1. Vortrag auf S. 15 oben: „Das wäre außerordentlich wichtig, wenn das weiter ausgebildet werden würde – was noch weniger bei uns ist –, dieses Aneignen des Unterrichteten als wirklichen persönlichen Besitz bei jedem einzelnen Kind.“ Dafür sind ein jeweils gut gestalteter und mit ausreichend Zeit angelegter 2. und 3. Schritt notwendig.

Was beinhalten diese 3 Schritte und wie bauen sie aufeinander auf?

Der erste Schritt

Heute ist es immer wichtiger, das Vorwissen, die Vorkenntnisse der Kinder einzubeziehen, damit man sie auch dort abholen kann, wo sie stehen. Sie haben oft schon soviel über das Thema gehört, gesehen oder gelesen, dass sie das Gefühl haben, doch schon ganz viel über das Thema zu wissen, sei es aus Comics, aus Hörbüchern, aus Filmen, aus Videos etc. Erst einmal nehmen sie das als „wahr“ auf und sie sind mit verschiedenen Gefühlen damit verbunden. Das müssen sie erst einmal loswerden, bevor sie bereit sind, das Neue aufzunehmen. Insofern bietet sich eine Runde über das „was wisst ihr schon darüber“ an, bevor der Lehrer den Einstieg in das Thema macht. Die Kinder fühlen sich gesehen und können sich einbringen, und als Lehrer weiß ich schon, womit die Kinderseelen schon belegt worden sind, was ich aufgreifen kann, was ich durch neue Bilder ersetzen muss, damit die Kinder an das Wesentliche meines neu einzuführenden Weltgebietes herankommen können. Auch hier ergibt sich schon je nach Thema eine gewisse Binnendifferenzierung der Klasse.

Für den ersten Schritt, in dem der Inhalt bildhaft und künstlerisch den Schüler*innen nahegebracht werden soll, ist der Frontalunterricht mit Ansprache an die ganze Klasse eine geeignete Methode. Die Lehrer*innen führen in das zu erkundende Lebensgebiet (Formenzeichnen, Schreiben, Rechnen, Künste, wissenschaftliche, handwerkliche Fächer etc.) ein und erwärmen die Seelen der Kinder dafür soweit, dass in ihnen Fragen dazu entstehen. Die Lehrer*innen sind hier – wie auch in besonderem Maße das Elternhaus – das „Tor zur Welt“. Je interessierter und je gebildeter die Lehrer*innen – und natürlich auch das Elternhaus – sind, desto mehr Zugänge zu den einzelnen Weltgebieten können sie den Kindern erschließen. Je begeisterter die Lehrer*innen für den Inhalt/ die Fragestellung/ das Problem sind, desto mehr werden die Kinder innerlich einsteigen können und sich damit selbst befassen wollen. Dazu gehört auch, dass die Lehrer*innen in ihren Darstellungen die verschiedenen Temperamente der Kinder ansprechen können, damit die Darstellung nicht einseitig nur eine Gruppe in der Klasse erreicht. Wenn diese Anwärmung gelingt, entstehen in den Kindern viele Fragen, die sie gelöst haben wollen. Das macht sie offen dafür, sich weiter damit zu befassen.

Der zweite Schritt

als das Feld zur Individualisierung, zum kooperativen Arbeiten und Lernen und damit zur Binnendifferenzierung

Dann sollen sich die Schüler*innen im zweiten Schritt individuell mit den Inhalten verbinden, sie aktiv ergreifen und gefühlsmäßig durchdringen können. Dafür muss im Unterricht genügend Zeit gegeben werden. Wenn es gut läuft, ist es in der Klasse ganz still, weil jeder intensiv damit beschäftigt ist, dem innerlich nachzugehen, was er gerade gehört und aufgenommen hat. Dafür sind nun andere Methoden als der Frontalunterricht oder die gemeinsame Arbeit mit den ganzen Klasse notwendig. Als Voraussetzung für alles Weitere ist unbedingt die Einzelarbeit jedes Schülers erforderlich, um sich individuell mit dem Thema zu verbinden und die eigenen Fragen daran entwickeln zu können. Geschieht das nicht oder zu wenig, sind die weiteren Schritte nur schwer möglich oder bringen unzureichende Ergebnisse. Dieses individuelle Eintauchen in den Inhalt gestaltet sich je nach Altersstufe und je nach Fach anders. So ist es beim Formenzeichenen das übende Zeichnen, bei anderen Inhalten in den unteren Klassen das Malen eines Bildes dazu, eines Rollenspiels o.ä., so wird es in den höheren Klassen auch in schriftlicher Form oder durch Nachbauen, Nachempfinden o.ä. individuell bearbeitet werden.

Diese Methoden, mit denen sich die Schüler*innen individuell mit den Inhalten auseinandersetzen können, müssen ab der ersten Klasse jeweils altersgemäß angelegt und geübt werden, damit für die Schüler*innen ausreichend Sicherheit im Umgang damit entsteht. Ein wichtiger Baustein, der kleinschrittig angelegt und geübt werden muss, ist die individuelle „Stillarbeit“. Dies ist für viele ungewohnt und muss deshalb konsequent eingeführt und positiv besetzt werden. Nach kurzer Zeit genießen die Kinder jedoch die Ruhe und das konzentrierte individuelle Arbeiten.

Erst auf dem individuellen Arbeiten und Lernen kann dann das kooperative Lernen z.B. in Lerntandems, Lerntrios, Lernquartetten aufbauen! Hier bieten die sog. neuen Lernformen eine vielfältige Auswahl von Methoden an, durch die die Schüler*innen einen individuellen Zugang zu den dargestellten Inhalten bekommen und dabei ihre eigene Spur finden und verfolgen können. Hier entstehen aus den Schüler*innen heraus jeweils individuelle, kindgemäße und altersgerechte Zugänge und Fragen zu den Inhalten, die die Lehrer*innen vorher häufig gar nicht ahnen, und die deshalb eine große Bereicherung des Unterrichtes darstellen. Näheres ist in dem Beitrag „neue Lernformen“ beschrieben.

Das kooperative Arbeiten und Lernen zur individuellen Vertiefung im zweiten Schritt sollte ebenfalls ab der 1. Klasse kleinschrittig angelegt und geübt werden. Hier hilft als umfassende Methode das gemeinsame Spielen. Die im Spielen erworbenen Fähigkeiten zur Zusammenarbeit müssen nun durch die Lehrer*innen im 2. Schritt des Unterrichts auch zugelassen, gefördert und kleinschrittig geübt werden. (Transfer vom Spielen zum Arbeiten und Lernen) Ideal wäre es, wenn auch hier die Schüler*innen mit den Inhalten dann irgendwann zu „spielen“ beginnen.

Außerdem sind meistens auch zusätzliche Räume bzw. kleine Arbeitsplätze in den Fluren nötig, damit nach der individuellen Arbeit auch in Tandems oder Kleingruppen gearbeitet werden kann.

Ein kurzer Exkurs zu den Hausaufgaben

Meiner Erfahrung kommt der 2. Schritt im Unterricht häufig zu kurz und wird dann mit den Pflicht-Hausaufgaben nach Hause verlegt. Dort aber findet das damit Gewollte nur in seltenen Fällen statt, weil in der Schule zu wenig Durchdringung und innere Verbindung mit dem Stoff/der Aufgabe/der Fragestellung erfolgt sind, so dass es sich dabei oft nur um ein Wiederholen oder Abschreiben handelt.

Eigentlich widersprechen Pflicht-Hausaufgaben diesem Ansatz des individuellen Lernens im 2. Schritt. Jedes Kind wird das, was es lernen will, auf seine jeweils individuelle Art vertiefen und üben. Es muss dazu nicht angehalten oder gezwungen werden, weil es das von sich aus will. Meiner Erfahrung nach beschäftigen sich die Kinder freiwillig, sehr gerne und zum Teil sehr intensiv mit den Themen auch außerhalb der Schule weiter. Und wenn es das Kind nicht will, wird es bei Pflichthausaufgaben auch nicht das Richtige lernen. Denn jeder lernt letztlich nur das, was er wirklich selbst lernen will. Deshalb führen Pflichthausaufgaben bei vielen Kindern zu Stress und in der Folge zu Vermeidungsstrategien oder zu einem Anpassungsverhalten. Sie lernen also dadurch etwas ganz anderes, als eigentlich damit intendiert ist, z.B. Ausreden erfinden, abschreiben etc. Auch hier kann man erleben, wie die extrinsische Motivation die intrinsische Motivation untergräbt, korrumpiert oder sogar zerstört.

Sehr bedeutsam finde ich in diesem Zusammenhang die Erkenntnis der Gehirnforschung, dass die ursprüngliche intrinsische Motivation eines Kindes durch den Einsatz extrinsischer Motivation, also Belohnung oder Bestrafung, abgebaut, geschwächt, ja sogar abgetötet wird, so dass das Kind in der Folge immer mehr bis sogar ausschließlich auf die extrinsische Motivation wartet und erst darauf reagiert. Dies wurde insbesondere an der Entwicklung der Impulskontrolle erforscht, die eine zentrale Rolle bei der menschlichen Entwicklung spielt. (s.a. Zimpel a.a.O.) Das ist inzwischen umfänglich erforscht worden u.a. im Zusammenhang mit dem bekannten sog. Marshmallow-Test.

Der zweite Schritt als Feld für die intrinsische Motivation

Ein weiterer waldorfpädagogischer Aspekt, der durch die Gehirnforschung bestätigt wird, ist die Bedeutung der Freude und der intrinsischen Motivation für das Lernen, die auch von Rudolf Steiner – mit anderen Begriffen – immer wieder betont werden. Dies sollte durch eine gut gestaltete und zeitlich gut ausgestattete zweite Phase möglich werden. Unsere Erfahrung mit den Praxisforschungsprojekten zeigt, dass durch das individualisierte, kooperative und selbstverantwortliche Lernen im 2. Schritt für fast alle Schüler*innen die Freude am Lernen und die innere Verbindung ermöglicht werden. Es entsteht eine gewisse Leichtigkeit, eine Akzeptanz der großen Verschiedenheiten der Schüler*innen untereinander sowie ein starker Wille sich einzusetzen und dieses jeweilige Weltgebiet auf seine ganz eigene Art zu erobern. Ein Ideal wäre für mich, dass hier das Lernen zu einem künstlerischen Prozess wird.

Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Achtung vor der Würde des Kindes, vor seiner speziellen Individualität, seinen Begabungen und Schwierigkeiten, die als besondere Lernherausforderungen und Lernchancen gesehen werden können, die zu dem Kind gehören. Insofern sollten auch diese geachtet und wertgeschätzt werden – und nicht als Defizite des Kindes betrachtet werden. Erst dann fühlt sich das Kind wirklich innerlich von den Lehrern akzeptiert und bekommt damit ausreichend Sicherheit, um individuell lernen zu können und zu wollen.

Der dritte Schritt

Der dritte Schritt im Dreischritt, die „Ergebnissicherung“, „Erkenntnis“, „Begriffsbildung“ erfolgt erst, nachdem die individuellen und kooperativen Lernprozesse des 2. Schrittes durch eine oder mehrere Nächte gegangen und dort verarbeitet worden sind. Wir haben in der Freien Waldorfschule Überlingen vor vielen Jahren in einer menschenkundlichen Forschungsgruppe über ein Jahr lang die Wirkungen des Dreischritts in verschiedenen Unterrichten in verschiedenen Altersstufen und Fächern praktisch erforscht und dabei festgestellt, dass die zweite Phase besonders wichtig ist. Wenn die individuelle, auch gefühlsmäßige Verbindung mit den Inhalten nicht genügend erfolgt und durch eine gemeinsame vertiefende Arbeit daran z.B. im Lerntandem befestigt wird, können durch die Nacht keine neuen Bilder und Erkenntnisse in den Kindern/Jugendlichen entstehen. Die Ergebnisse sind dann am nächsten Morgen dürftig, die gemeinsame Sammlung schleppend, tauchen keine neuen Bilder, keine erweiterten Erkenntnisse und Begriffe auf, sind nur wenige Kinder angeschlossen.

Entgegen dem üblichen Wiederholungsteil am Morgen im Plenum, indem in der Regel die Inhalte vom Vortag wiederholt werden, bietet sich nach einem intensiven 2. Schritt an, auch im 3. Schritt wieder mit einer individuellen Arbeit an den individuellen Erkenntnissen anzusetzen, da es ja darum geht, nicht vorgefertigte Erkenntnisse/Begriffe zu übernehmen, sondern eigene Erkenntnisse/Begriffe zu bilden. Daran kann sich dann eine Partnerarbeit im Lerntandem zur Klärung und Vertiefung anschließen, die dann erst in eine Vierergruppe oder auch direkt ins Plenum münden kann.

Wird dieser Schritt mit ausreichender Zeit und Offenheit angelegt wird, können die Schüler zu erstaunlichen eigenen Erkenntnissen gelangen, die mich als Lehrer immer wieder überrascht und beglückt haben. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man diese Erfahrung in jeder Altersstufe machen kann – natürlich immer dem jeweiligen Entwicklungsstand der Kinder entsprechend.

Weitere Hinweise zu den neuen Lernformen finden sich in: Michael Harslem: Der Dreischritt im Unterricht und das individualisierte, kooperative und selbstverantwortliche Lernen Teil 2 „neue Lernformen“.

Zweiter Teil zu den neuen Lernformen hier: Der Dreischritt im Unterricht und das individualisierte, kooperative und selbstverantwortliche Lernen Teil 2: Neue Lernformen

Michael Harslem

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