Die vier Lehrer

Selbstverantwortliches Lernen und die vier Lehrer*

*Der besseren Lesbarkeit wegen wird das generische Feminin oder Maskulin verwendet. Es sind damit aber immer die Menschen beider Geschlechter gemeint.

Wenn die Schüler* einmal begriffen haben, dass sie freiwillig lernen und nicht, weil sie dazu gezwungen werden, entwickeln jeder einzelne und die Klasse eine eigene Lernmotivation, eigenen Lernwillen und Phantasie, eigene neue Lernwege zu finden und auszuprobieren. Dann muss der Lehrer, die Lehrerin den Raum und den Rahmen geben, in dem das erkundet werden kann – und individuell sowie mit der Klasse wieder überprüft wird.

In der Praxis hat es sich sehr bewährt, wenn der Lehrer seine Rolle dahingehend verändert, dass er möglichst auf die Fragen der Schüler keine Antwort mehr gibt, sondern sie selbst die Lösung suchen und finden lässt. Eine erfahrene Waldorflehrerin in Hamburg Bergstedt hat das ab der ersten Klasse in vorbildlicher Weise mit ihren Schülern geübt. Bei meinen Hospitationen in ihrer Klasse konnte ich das miterleben. Kam eine Schülerin zu ihr und fragte: „Frau B. was ist das?“ oder: „ist das richtig?“ oder „was soll ich machen?“ bekam sie zur Antwort die Gegenfrage: „Hast Du schon selber überlegt?“ War die Antwort: „Nein“, so kam die Aufforderung „dann überlege doch mal!“ und das Kind ging wieder an seinen Platz, um zu überlegen.

Dann kam ein anderes Kind mit einer Frage und die Gegenfrage lautete wieder „hast Du schon selber überlegt?“ War dann die Antwort „ja“, kam dann die Gegenfrage: „hast Du schon jemanden anderen gefragt?“ War die Antwort: „Nein“, so kam die Aufforderung „dann frage doch jemand anderen!“ und das Kind suchte sich einen anderen, um das zu besprechen.

Damit erledigten sich etwa 95 % der Fragen der Kinder! Sie gewöhnten sich immer mehr daran, erst selbst zu überlegen und, wenn sie nicht weiterkamen, jemanden anderen zu fragen. So lernten die Schüler von Anfang an, erst einmal selbst nachzudenken und sich selbst mit dem Thema zu beschäftigen, um selbst eine Lösung zu finden, bevor sie sich mit anderen darüber austauschen. Dieser Austausch mit anderen wurde durch die Lehrerin angelegt und geübt, sodass er für alle ganz selbstverständlich wurde. So wurde das Lernen im Duo, im Lerntandem mit wechselnden Partnern von der ersten Klasse an ganz einfach und unkompliziert eingeführt und ständig geübt.

Die Lehrerin war dadurch in den Arbeitsteilen und Lernteilen sehr entlastet und konnte sowohl in Ruhe die Kinder beobachten, als auch bestimmten Kindern helfen, die zeigten, dass sie spezielle Bedürfnisse hatten.

Die Schüler können i.d.R. gegenseitig viel besser abspüren als der Lehrer als Erwachsener, wo es bei dem anderen hakt, wo er nicht mitkommt bzw. wie anders er denkt. Kinder haben oft ganz andere Denkweisen und Lösungswege, als Erwachsene es sich vorstellen können. Sie sind sehr kreativ im Erfinden von Lösungsstrategien, die für Erwachsene oft nur schwer nachvollziehbar sind, weil sie den Erwachsenen-Denkgewohnheiten nicht mehr entsprechen. Aus meiner Sicht ist das wichtigere Lernfeld, eigene Lösungsstrategien zu finden und auszuprobieren, als die richtige Lösung zu wissen. So dürfen die Kinder auch verschiedene Irrwege gehen, um zu einer Lösung zu kommen. Wichtig ist dabei, dass sie selbst erkennen dürfen, dass es ein Irrweg war, und das nicht vom Lehrer vorgesetzt bekommen. Meiner Erfahrung nach hat es sich bewährt, die Kinder so lange suchen zu lassen, bis sie selbst eine für sie gangbare und brauchbare, also die für sie richtige Lösung gefunden haben. Kinder haben gegenseitig sehr viel mehr Verständnismöglichkeiten und können sich deshalb gegenseitig viel besser helfen. Also: lasst Schüler von und mit Schülern lernen!

In einem Bericht über eine Schule mit alternativen Lernformen (YouTube: Augenhöhe macht Schule) fand ich eine Liste mit den vier Lehrern, die das oben Dargestellte ergänzt, die sich dort aus Sicht des Schülers (von mir umformuliert und ergänzt) so darstellen:

  • Mein erster Lehrer bin ich,
  • Mein zweiter Lehrer bist Du, der andere Schüler, seid Ihr, die anderen,
  • Mein dritter Lehrer ist der Raum, sind die Materialien,
  • Mein vierter Lehrer ist der Lehrer! Der das alles möglich macht! (M.H.)

Damit sind die Grundlagen für individualisiertes, kooperatives, selbstorganisiertes, selbstbestimmtes, selbstverantwortliches Lernen der Schüler treffend beschrieben.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, hier noch kurze Erläuterungen:
Der Lehrer gibt natürlich die Inhalte und den Rahmen! Mein erster Lehrer bin ich, soll heißen, dass der Schüler von Anfang an in dem Gefühl leben und lernen sollte, dass er selbst lernt und kein anderer für ihn lernen kann. Meiner Erfahrung nach wird in der Regel das Lernen viel zu sehr mit dem Lehrer verbunden, dem dann auch die Verantwortung dafür zugeschoben wird und der auch in der Gefahr steht, die Verantwortung dafür zu übernehmen, obwohl jeder nur selbst lernen kann und dass kein anderer für mich tun kann.
Mein zweiter Lehrer bist Du, der andere Schüler, seid Ihr, die anderen, bedeutet, dass der Schüler von Anfang an lernt, den anderen Schüler als Lernpartner zu begreifen, mit dem er sich austauschen kann, mit dem er gemeinsam suchen und finden kann, der ihm und dem er weiterhelfen kann, mit ihm er im Team arbeiten kann. Ein wichtiges Lernfeld ist dabei auch, für die verschiedenen Fragen die richtigen Lernpartner finden zu lernen. Das können von Frage zu Frage, von Fach zu Fach und im Laufe der Zeit sehr verschiedene Lernpartner sein.
Mein dritter Lehrer ist der Raum, sind die Materialien, weckt das Gefühl dafür, dass sich an verschiedenen Plätzen im Klassenzimmer, Orten außerhalb jeweils besser oder schlechter alleine oder im Tandem arbeiten und lernen lässt. Es wird auch das Bewusstsein darauf gelenkt, dass verschiedene Materialien wie Landkarten, Bilder, Bücher, Listen etc. in der Klasse, später auch das Internet, zu Verfügung stehen, die man nutzen kann. Weiterhin wird selbstverständlich, dass man mit verschiedenen Lern-Materialien wie Arbeitsblätter etc. arbeiten kann, die aus meiner Sicht am besten von den Schülern selbst hergestellt werden.
Mein vierter Lehrer ist der Lehrer! Der das alles möglich macht! (M.H.) das bedeutet nicht, dass der Lehrer unwichtig ist, weil er erst an vierter Stelle in der Reihenfolge erscheint. Selbstverständlich ist der Lehrer für die Einführung, Anwärmung und Vermittlung der Inhalte sowie für das gesamte Setting und Klassenraum-Management verantwortlich. Er stellt alle diese Bedingungen der ersten drei Schritte her, damit die Schüler diese auch gehen und nutzen können. Aber dann gibt er den Schülern die Verantwortung dafür, was sie aus dem Vorgestellten mit den angelegten und geübten Methoden selbst machen können und wollen.

So verändert sich die Lehrerrolle ganz grundlegend! Er wird vom alleinigen Wissensvermittler, wandelnden Lexikon, Animateur, Dompteur u.ä. nun immer mehr

  • einerseits zum „Tor zur Welt“, durch das die Schüler Einblicke in immer neue, interessante Gebiete erhalten, die es zu entdecken und zu erforschen gilt, und
  • andererseits zum Begleiter der individuellen und gemeinsamen Lernprozesse der Schüler, zum Gestalter der Lernräume in zeitlicher und räumlicher Hinsicht, zum Experten für bestimmte Sachgebiete und vor allem zum Experten für das Lernen der Kinder und der Jugendlichen.

Mit diesen Hinweisen will ich Mut machen, die Individualisierung des Lernens durch die Eigenarbeit der Schüler von Anfang an anzulegen und zu üben. Meiner Erfahrung nach genießen alle(!), besonders auch die hyperaktiven und die Stillen, diese ruhigen Zeiten in der Klasse, in denen alle für sich intensiv beschäftigt sind. Will ich Mut machen, dann den nächsten Lernschritt wirklich an die Schüler zu übergeben, damit sie lernen dürfen, in ihrem eigenen Tempo an ihren eigenen Fragen selbstorganisiert, kooperativ, d.h. gemeinsam im Duo zu arbeiten und zu lernen. Der Lehrer kann dadurch Freude am Lernen der Schüler entwickeln!

Michael Harslem

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